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Wie viel Heilung ist möglich? Oder: die vier Ebenen der Verarbeitung Teil 2

Inhaltsverzeichnis 

Weiterführender Artikel: Die vier Ebenen der Verarbeitung, Teil 1

 

Psychotherapie und der Heilungswunsch

Die meisten Menschen kommen in ein psychotherapeutisches Setting, um ihre Konflikte zu bearbeiten und um Symptome zu beheben. Sie wollen, dass es ihnen besser geht. Vielleicht wollen sie sogar geheilt werden. Die Frage, die sich natürlich stellt, ist: Wie viel Heilung ist möglich? Und wenn sie möglich ist, wie lässt sie sich erreichen? In diesem Artikel werde ich – in Anlehnung an den Artikel Die vier Ebenen der Verarbeitung – die Heilungsfrage anhand der vier Ebenen (körperlich, emotional, kognitiv, spirituell) bearbeiten.

Körperliche Heilung

Körperliche Heilung beinhaltet das Verschwinden von einigen Symptomen und Beschwerden oder von ganzen Krankheitsbildern. Inwiefern sie möglich ist, hängt davon ab, ob der körperliche Schaden reparabel oder irreparabel ist. Ein deutliches Beispiel: Wenn ein Arm verloren wurde, kann er nicht wieder nachwachsen. Hier ist Trauerarbeit, also Heilung auf einer anderen Ebene angesagt. Egal, was man macht, das wird den Arm nicht zurückbringen. Der Verlust muss betrauert, das Festhalten an einem früheren, verlorenen Zustand beendet werden. Es gibt auch andere Krankheiten, die, wenn fortgeschritten, irreparable Schäden anrichten. Einiges kann rückgängig gemacht werden, sofern die dafür nötigen Mechanismen noch funktionieren, aber vielleicht nicht alles.

Die körperliche Heilung hängt auch eng mit der psychischen / emotionalen zusammen. Ich folge da den Ansichten von Rüdiger Dahlke, der sagt, dass Konflikte und Themen "in den Körper rutschen", wenn die Psyche dafür nicht offen genug ist. Also geht hier der Weg darüber, das im Körper Gespeicherte wieder der bewussten Psyche zugänglich zu machen, die Emotionen und Konflikte, die ungelösten Bindungen, wieder an die Oberfläche zu holen. Die eigene oder familienvererbte Gewalterfahrung, die das Becken angespannt lässt und Menstruationsschmerzen oder Schlimmeres verursacht. Die eigene Selbstausbeutung, die den Rücken krumm und angespannt werden lässt. Den Ehrgeiz oder den Perfektionismus, die den Nacken verspannen und so auch Kopfschmerzen verursachen. Körperliche Entspannung und Heilung setzt aber auch in vielen Prozessen unmittelbar ein, wenn auf anderen Ebenen gearbeitet wird: Es zuckt, es kribbelt, es knackt. Die genaue Verbindung ist häufig unklar, aber es verschafft Linderung und ggf. auch Heilung. Das Gute an der Körperarbeit: Der Körper lügt nicht. Er macht alles sichtbar und reagiert direkt auf jede ausgesprochene und gelebte Wahrheit. Symptome verschwinden, weil sie nicht mehr über den Körper ausgedrückt werden müssen.

Psychische / emotionale Heilung

Die Ebene der bewussten Psyche (Emotionen, Erinnerungen, Beziehungen) ist gut zugänglich. Hier gilt aber: Die Psyche lügt sehr gern. Sie tut alles, um uns auszutricksen, zu beschützen. Manchmal lässt sie ihre Tricks als etwas anderes aussehen oder macht sie gar unzugänglich. Sie ist die Überlebensmeisterin. Natürlich hat sie auch gesunde und klare Anteile, die Selbstverantwortung übernehmen und eine Klärung wollen. Sonst würde ja kein Mensch in einem therapeutischen Prozess landen. Diese Anteile müssen sogar überwiegen, sonst würde man keine Freigabe für die Terminvereinbarung bekommen. Im Prozess selbst können sich die Kräfte wieder verschieben und den Blick verschleiern oder verengen. Soll die innere Wahrheit aufgedeckt werden, verstärkt die Psyche ihre Schutzmechanismen. Sie holt sich gern die kognitive Ebene dazu: Sie relativiert, rechtfertigt, erklärt lange und genau, rationalisiert... Oder sie holt die körperliche Ebene dazu: Schwere ist fühlbar oder Übelkeit oder Kopfschmerzen. Ganz nach dem Motto: "Schau mal, wie anstrengend das alles jetzt schon ist. Du willst doch nicht, dass es noch schlimmer wird! Überleg es dir gut!" Oder sie agiert direkt auf der psychischen Ebene: Scham und Schuldgefühle, Ängste, schlechtes Gewissen usw. machen sich breit. Oder sie bedient sich der Projektionen, sucht die Schuld bei den anderen, weist die Verantwortung von sich, bietet uns die Opferrolle an. Wenn man die Täuschung erkennt (Aus meiner Außen-Perspektive ist es einfach. Ich achte auf meine körperliche Reaktion, die deutlich aufzeigt, ob ein Schutz aktiv oder das Erleben echt ist. -> s. o. "Der Körper lügt nicht"), sie sich eingesteht und mit ihr Frieden schließt oder entscheidet, sich selbst nicht mehr auszutricksen, kommen die Wahrheiten wieder ans Licht. Das ursprüngliche Schmerzempfinden wird zugänglich. Und so wird auch echte Trauer möglich. Gleichzeitig setzt Heilung ein. Das psychische Konstrukt wird schlanker. Das Ego schmilzt ein Stück, jedenfalls der Teil davon, den wir nicht mehr brauchen  – die überflüssig gewordenen Schutzfunktionen.

Heilung auf der kognitiven Ebene

Die kognitive Ebene wartet mit allerlei Konstrukten auf. Gedankenkonstrukte, Gedankenverknüpfungen, kognitive Annahmen über die Welt und über uns selbst. Auf dieser Ebene bilden wir gern mal Luftschlösser oder kognitive Wolkenkratzer, die gern mal auf Illusionen, Lügen und Ähnlichem basieren. Hier kann die Heilung relativ schnell erfolgen, sofern man sie zulässt. Vielleicht ist die Zeit der gedanklichen "Wolkenkratzer" und der tüchtigen Geschäftigkeit abgelaufen und man ist bereit, die Rolle des Sprengmeisters zu übernehmen? (Alternativ kann man darauf warten, dass das Leben selbst die Rolle des Sprengmeisters früher oder später übernimmt und für eine Erschütterung oder gar ein gewaltiges Erdbeben sorgt.) Lässt man die Wahrheit des eigenen Erlebens in einem Prozess zu, stürzen die Gebilde ein. Fertig. :-) In den Trümmern findet man vielleicht noch etwas Wertvolles, vielleicht eine Erkenntnis oder das tiefe Verstehen von Wirkmechanismen. Das wäre aber schon alles und die Trümmer können dann normalerweise einfach weg. Das Ergebnis: ein neues, stimmigeres Selbst- und Weltbild und weniger Gedanken im Kopf. 

Heilung auf der spirituellen / existenziellen Ebene

Auf dieser Ebene ist alles heil. Nichts muss geheilt werden. Der eigene innere Kern ist unkaputtbar, unzerstörbar, heil und pure Energie. Der Zugang zu dieser Ebene ist aber essentiell für die Heilung auf den anderen Ebenen. Schön häufig habe ich erlebt, dass eine Annäherung an diese Ebene eine oder mehrere Heilungsimpulse auf den anderen Ebenen ausgelöst hat. Stellen Sie sich eine Aufstellung vor, bei der es nur noch zwei Positionen gibt. Alle anderen spielen keine Rolle mehr oder wurden bearbeitet und herausgenommen. Die Klientin steht auf ihrem aktuellen Ich und ich stehe auf ihrem inneren Kern, auf ihrem Selbst. Der Weg ist frei, es sind ca. 1,5 Meter zu überwinden. Der Kern ist bereit, sie in Empfang zu nehmen. Es liegt nur an ihr. Sie fasst ihren Mut, weil sie sich nach dem Kern, der für sie v. a. den Aspekt der bedingungslosen Liebe repräsentiert, so sehr sehnt. Ihr ganzes Leben schon. Sie fängt an, mit dem Kern / ihrer Selbst-Liebe zu verschmelzen. Zuerst über die Hände, dann über die Ellenbogen, dann über die Schultern, dann über den ganzen Körper. Je mehr sie die Liebe annehmen kann, desto mehr Schmerz und Erleichterung sind da, die in Wellen wieder verschwinden. Sie tankt so viel Liebe, wie sie möchte. Heilung findet statt. Sie erreicht einen neuen Grad an Selbstverbundenheit. Ein Meilenstein in ihrem bislang sehr lieblosen Leben.

Dadurch, dass ich einen guten Zugang zu dieser Ebene habe, in der Praxis meiner Berufung folgend noch ein ganzes Stück mehr als als Privatperson, habe ich die Fähigkeit, solche Heilungsprozesse einzuleiten und zu ermöglichen. Das ist aber keine Wunderwaffe und kein Wundermittel, sondern setzt eine sehr hohe Bereitschaft des Klienten voraus, sich seinen "Lügen" und seinem wahren Erleben zu stellen. Er oder sie muss bereit sein, sich zu verwandeln. Er oder sie muss die volle Verantwortung für die eigene Heilung übernehmen.  

Was ist mit der Seele?

Auch auf der Seelenebene ist alles heil. Wer an die Seele glaubt, kann darauf vertrauen, dass von ihrer Ebene aus alles in Ordnung ist und man sowieso automatisch alles dafür tut, seine Seelenaufgaben zu bewältigen. 

Ist es möglich 100% geheilt zu sein?

Auf der spirituellen Ebene sind wir 100% heile. Als verkörperte Wesen sind wir es nicht. 100% heile zu sein wäre wohl nicht im Sinne des Lebens. Man wird immer wieder mit neuen Konflikten, Lernaufgaben, Herausforderungen usw. konfrontiert, worauf man mit Symptomen antworten kann. Trotzdem lohnt sich die Heilarbeit. Auch wenn 100% Freiheit von Symptomen und Krankheiten nicht erreicht werden kann, wird das Leben lebenswerter, erfüllender, interessanter. Man dreht sich nicht immer in den selben Mustern, Problemen, Beziehungen, sondern es kommt immer wieder etwas Neues. Die Arbeit richtet sich niemals gegen die beiden Prinzipien Leben und Tod, sondern integriert diese. Ich heile mich, ich werde aber trotzdem sterben. Für das Dazwischen übernehme ich die volle Verantwortung und suche nicht mehr nach Schuldigen. Vielleicht habe ich durch meine Prozesse meine Lebensspanne verlängert, da ich ein paar Knoten gelöst habe. Und ich habe die Qualität dessen, was ich vor meinem Tod erlebe, verbessert. So, wie in der Schule, bleibe ich nicht immer wieder in der 2. Klasse sitzen, sondern komme in die 3., dann in die 4. Klasse. Ich bekomme immer mehr Freiräume, immer spannendere Aufgaben, immer mehr Raum für meine Kreativität. Meine Fähigkeiten entwickeln sich und wollen eingesetzt werden. Ich lebe meine Berufung. Sollte etwas Körperliches bereits irreparabel beschädigt sein oder ein wichtiger Gefährte mich bereits verlassen haben, so trauere ich und schließe meinen Frieden damit. Ansonsten nehme ich jedes Symptom als Botschaft ernst, entschlüssele es und lerne weiter.

 

Buchempfehlungen

Gabor Maté: When the Body Says No (Schwerpunkt Gesundheit / Krankheit). Leider gibt es dieses Buch nur auf Englisch.
Isa Grüber: Was der Körper zu sagen hat: Ganzheitlich gesund durch achtsames Spüren. Stress- und Traumabewältigung mit Somatic Experiencing® (SE).
Dan Siegel: Mindsight - Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation.
Deepak Chopra: Das Buch der Geheimnisse.
John O'Donohue: Anam Cara: Das Buch der keltischen Weisheit.

 

 Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie viel Heilung erhoffe ich mir? Wie viel bin ich bereit dafür zu investieren? Bin ich verbissen oder gelassen?
  • Hoffe ich vielleicht auf ein Wundermittel, egal ob Medikament oder Therapie, das meine Probleme und Symptome zum Verschwinden bringt, ohne dass ich mich aus meiner Komfortzone herausbewegen muss?
  • Habe ich bereits irreparable Schäden an meinem Körper? Wie lebe ich damit? Ist noch irgendwo unabgeschlossene Trauer über diesen Verlust und Groll? Oder habe ich damit meinen Frieden geschlossen? Bin ich bereit, in Prozesse zu gehen, um weitere Schäden verhindern oder aufhalten zu können?
  • Wie sieht es auf der psychisch-emotionalen Ebene aus? Mache ich Fortschritte oder drehe ich immer wieder dieselben Runden in meinen Beziehungen, meinen Befindlichkeiten und Zuständen? Springen immer wieder die selben Muster an, so dass ich weiß, was mich erwartet? Oder habe ich doch wieder eine neue, fortgeschrittenere, Lernaufgabe vor mir?
  • Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin: Was steht in meinem Leben als Nächstes an? 
  • Wenn der Lehrmeister des Lebens an meiner Tür klingeln würde, welche Aufgabe(n) würde er mir überreichen? Würde ich ihn wegschicken (und welchen Preis dafür bezahlen?) oder würde ich die Aufgabe annehmen? Oder nehme ich sie zwar erst an, lege sie dann aber auf meinen To-do-Stapel, so dass sie mit der Zeit in den Weiten meines Schreibtisches verschwindet?
  • Wozu bin ich auf dieser Welt? Was sind meine Lebensaufgaben? Habe ich meine Berufung gefunden? Bin ich gut mit mir selbst verbunden?
  • Habe ich schon einmal das Körpergefühl (meist ist es eine angenehme Gänsehaut) erlebt, das auftritt, wenn tiefe Wahrheiten ausgesprochen werden? Weiß ich um sein Heilungspotential? Oder ist es mir unbekannt, fremd und "spooky"? Wäre ich bereit, mich darauf einzulassen, oder überwiegt noch die Angst, z. B. die Kontrolle zu verlieren?

 

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