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Ehrlich oder wahr?

 

Inhaltsverzeichnis

 

Selbstbild: Ehrlich! Was denn sonst? 

Sind Sie ein ehrlicher Mensch? Jemand, der immer die Wahrheit sagt? Oder tricksen Sie manchmal ein bisschen, z. B. aus Höflichkeit oder um andere nicht zu verletzen oder gar um sich nicht zeigen zu müssen? Oder um sich in einem etwas besseren Licht darzustellen oder um sich Vorteile zu ergattern? Oder gehören Sie zu denen, die sich endlos winden und schlingen und um DIE Sachen herumkommen können, nur um bloß nicht Farbe zu bekennen oder ans Eingemachte zu müssen?

Wahrscheinlich sind Sie – wie wir alle – ein Mischtyp. Wir halten die Ehrlichkeit für einen hohen Wert und glauben danach zu handeln. Und wenn wir nicht ehrlich sind, dann hat es gute Gründe. Und außerdem haben wir alle einige kleinere und größere Tricks auf Lager, die uns Unehrlichkeiten gestatten, die wir selbst nicht merken. Höchstens dann, wenn Menschen irritiert auf uns reagieren und / oder Konflikte entstehen. Denn wenn wir beim Tricksen erwischt werden, versuchen wir uns gegen diese Erkenntnis zu wehren und eine Demaskierung zu verhindern, es sei denn, sie ist nah an unserer Bewusstseinsgrenze, so dass die Integration der Erkenntnis auf wenig Abwehr stößt. Es ist höchstens etwas unangenehm.

Selbstbetrug (s. auch "Alle meine Lügen...") ist übrigens weit verbreitet und gehört zur Psyche eines Menschen genauso dazu wie Kleidung und Kosmetik zu seinem Körper.

Eine ehrliche Haut

Die meisten von uns schätzen ehrliche Menschen in unserem Umfeld, denn wir wissen dann, wo wir dran sind. Ja, es kann manchmal unangenehm werden, wenn jemand anders sich ehrlich und direkt äußert. Manchmal mehr als nur unangenehm. Und dann gibt es Konflikte. Aber auch das geht vorbei. Aber die Sicherheit, dass wir nicht zum Opfer von irgendwelchen Tricks werden, überwiegt doch meist die Unannehmlichkeiten, die eine ehrliche Haut mit sich bringt. Ehrlichkeit ist also durchaus ein hohes Gut. Aber ist deswegen alles wahr, was ehrlicherweise gesagt wird? Jeder von uns hat sicherlich Situationen erlebt, indem er mit Überraschung auf etwas Ehrliches reagiert hat. Oder sogar mit Schock und Entsetzen. Das Ehrliche des anderen schien zu unserer Wahrheit gar nicht zu passen. Und meistens sind wir von unserer Wahrheit ziemlich überzeugt. Ist denn unsere Wahrheit auch immer wahr? Oder ist sie nur ehrlich, ohne wahr zu sein? Oder ist sie ehrlich und nur zum Teil wahr? Puh, ganz schön kompliziert! Schauen wir es uns erst einmal umgekehrt an: Ist denn das Ehrliche immer wahr?

Ehrlich = wahr?

Ist das, was ich ehrlich sage, deswegen auch immer wahr? Oder kann ich ehrlich sein und trotzdem falsch liegen? Das ist im therapeutischen Kontext besonders interessant, aber auch fürs Alltagsleben durchaus spannend.

Am einfachsten ist es, den Sachverhalt an einem Beispiel zu erläutern. Nehmen wir an, mein Kind macht etwas, was mir nicht gefällt. Ich bitte es, es zu unterlassen. Es macht trotzdem weiter. Ich werde wütend und sage es noch einmal. Das Kind macht trotzdem weiter, hat vielleicht seinen Spaß an meiner Reaktion. Ich fühle mich "provoziert", werde noch ärgerlicher, vielleicht sogar zornig, fange an zu schreien. Wenn mich danach jemand fragen würde, was passiert ist, würde ich sagen: "Mein Kind hat x gemacht. Das hat mich wütend gemacht. Ich habe es gebeten, aufzuhören, es hat aber immer weiter gemacht. Darauf hin bin ich explodiert." Ist das ehrlich? Ja, das sieht ganz danach aus! Ist es auch die Wahrheit? Ja? Nein? Teils-teils?

Etwas Klarheit bringt ein anderes Beispiel. Es ist nicht von mir. Ich habe es irgendwo anders gelesen (Genauer: die Ausgangssituation ist nicht von mir, das Weitergesponnene ist von mir.). Mehrere Menschen befinden sich im Fahrstuhl. Der Fahrstuhl bleibt stecken. Der eine reagiert mit Panik, da er glaubt, aus dem Fahrstuhl nie wieder herauszukommen. Ein anderer reagiert mit Ärger, da er einen wichtigen Termin verpasst. Ein anderer reagiert wiederum mit Erleichterung, da ein ihm unangenehmes Gespräch erst einmal doch noch verschoben wird. Ein anderer Mensch hört weiter Musik und wartet einfach, bis er herauskann. Die Reaktionen der Menschen sind überaus ehrlich, sind sie aber auch wahr? Jemand, der entspannt Musik hört, könnte im tiefsten Inneren von Panik erschüttert werden, die er nicht einmal mitbekommt, weil er aus dem Körper geht. Die Erleichterung des anderen ist vielleicht nur eine Illusion. Das unangenehme Gespräch wird trotzdem stattfinden, aber eben später. Der Ärger könnte genauso ehrlich und gleichzeitig unwahr sein und aus dem Selbstbild eines Ehrgeizigen und Pünktlichen resultieren, der seine Kunden nicht im Stich lässt. Vielleicht ist dieser Mensch in Wahrheit froh, eine Auszeit im Fahrstuhl zu bekommen. Endlich will niemand etwas von ihm. Wie schön!

Sie merken: Das ist ganz schön komplex! Die Ehrlichkeit über die Wahrnehmung der eigenen Gedanken, Impulse und Emotionen schließt die Wahrheit nicht zwangsläufig mit ein. Sie kann sie sogar komplett ausschließen, wie bei dem Menschen, der entspannt Musik hört und seine innere Panik keinen Deut spürt. Und dann kommt noch die soziale Komponente mit ins Spiel, also das, was man nach außen hin zeigt und zugibt.

Und vor allem: Woher soll man denn nun bitte wissen, was wahr und unwahr ist? Wer oder was definiert die Wahrheit?

Fragen über Fragen, aber zuerst zum ersten Beispiel mit dem Kind.

Mein Kind bringt mich auf die Palme

Das Beispiel ist klassisch. Wahrscheinlich alle Eltern, auch die geduldigsten haben es erlebt: "Hilfe! Mein Kind bringt mich auf die Palme! Und ich kann nichts dagegen tun..." Kinder sind Meister im Aufspüren von wunden Punkten. Gezielt und frohen Mutes legen sie ihre kleinen Finger tief in die Wunde. Die Eltern wehren sich dagegen, geben dem Kind die Schuld, bestrafen es vielleicht für sein "schlechtes" Benehmen.1 Die Wunde bleibt – und in ihr die Wahrheit.

Wahrheit und Lüge: Partner fürs Leben

Ehrlichkeit ist übrigens mit dem Wort "Ehre" verwandt. Es geht also um die Frage der sozialen Würde, der eigenen Glaubwürdigkeit und des Vertrauens. Das ist ein wichtiger Aspekt des menschlichen Zusammenlebens. Wer ehrlich zu mir ist, dem kann ich wahrscheinlich vertrauen. Der genießt ein gewisses Ansehen bei mir und umgekehrt kann ich mich darauf verlassen, dass dieser Mensch meinem Ansehen ehrlicherweise zuträglich sein wird. Die Wahrheit hingegen erschließt andere, tiefere Dimensionen des menschlichen Daseins. Die Wahrheit hat also demnach eine andere Qualität als die "bloße" Ehrlichkeit (bitte nicht im hierarchischen Sinne verstehen).

Die Wahrheit und die Lüge sind übrigens keine Gegensätze im klassischen Sinne. Wo die Lüge zu Hause ist, muss auch die Wahrheit sein. Insofern besteht auch keine Notwendigkeit, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben, denn sie ist schon da. Dafür reicht es, sich die Lügen genauer anzusehen. Am Anfang weiß man nicht, ob etwas wahr oder nicht wahr ist. Das lässt sich aber überprüfen. Sollte es sich als unwahr herausstellen und man würde sich zur Lüge bekennen, würde die Lüge die Wahrheit freigeben. Das hört sich schrecklich schmerzvoll an, ist aber nur einen kurzen Moment unangenehm (Die Angst davor ist viel schrecklicher und schmerzvoller!), denn gleich danach stellt sich die Erleichterung, vielleicht sogar die Heilung, durch die Wahrheit ein. Die Lüge ist also unser Schutz und hebt die Wahrheit für uns auf – so lange, bis wir bereit dafür sind. Gleichzeit erzeugt das Vorhandensein der Wahrheit (im Körper) und der Lüge (im übrigen System) Dissonanzen, die wir als Symptome, Unstimmigkeiten und Konflikte wahrnehmen. Der Kopf hat eine Information, der Körper eine andere. Der Körper versucht mit dem Kopf darüber zu kommunizieren. Der Kopf versteht es nicht oder will es nicht verstehen, da er von seinem alten Konzept loslassen müsste (S. auch "Mut zur Transformation").

Wahrheit und Lüge: die Prüfungen

Das Leben hält für uns Prüfungen bereit. Wenn wir uns auf sie einlassen, werden wir von unseren Lügen loslassen und die Wahrheit willkommen heißen können. Manchmal braucht man dabei Hilfe. Man kann sich bei manchen Dingen auch selbst helfen. Der wichtigste Punkt dabei ist: Glauben Sie nicht allem, was Ihre Psyche so Tag für Tag an Gedanken, Emotionen und Reaktionen produziert. Die Psyche ist eine Täuschungsweltmeisterin, denn unsere Gedanken, Emotionen und Reaktionen fühlen sich absolut echt und authentisch an. Sie sind es aber häufig nicht. Sie sind also ehrlich, aber nicht wahr. Daher stellen Sie sich immer mal wieder zwei Fragen:

  1. Was nehme ich ehrlicherweise an Gedanken, Emotionen, Reaktionen wahr?
  2. Glaube ich, dass sie auch wirklich wahr sind?

Wenn Sie die zweite Frage immer mit Ja beantworten, dann gratuliere ich Ihnen: Sie sind ein Selbsttäuschungsweltmeister! :-D :-D :-D Spaß beiseite! Kommen wir zu einem Beispiel.

Beispiel aus einer Sitzung

Eine Klientin musste in ihrer Familie viele überfordernde Schwingungen und Gefühle ertragen. Mal ging es hoch, mal runter, wie in einer Achterbahn. Sie beschloss, aus der Achterbahn auszusteigen – eine mutige Entscheidung, die besonderer Anerkennung und Wertschätzung bedurfte. Das Thema Wertschätzung löste aber bei der Klientin sehr viele Leid-Gefühle aus. Sie hockte sich auf den Boden, weinte und schluchzte. War das eine ehrliche Reaktion? Yes. War sie wahr? Nope! Woher wusste ich das? Jetzt kommt eine neue Regel ins Spiel: Wahrheit setzt einen Energiefluss voraus, Ehrlichkeit nicht. Sie können sich also eine dritte Frage stellen:

3. Wenn ich ehrlich über meine Gedanken, Emotionen und Reaktionen rede, bin ich mit meinem Körper gut verbunden? Fließt die Energie? Oder fließt sie nicht oder nur teilweise? Abhängig von Ihrer Antwort können Sie ableiten, ob Ihre ehrliche Aussage über sich selbst wahr, teils wahr oder nicht wahr ist, auch wenn Sie immer noch nicht wissen, was die Wahrheit ist, wenn sich Ihre Aussage teils wahr oder unwahr herausstellen sollte.

Sie haben diesen Schritt tatsächlich gemacht? Herzlichen Glückwunsch! Sie haben besonderen Mut bewiesen! Und jetzt wissen Sie auch, woher ich wusste, dass die Reaktion der Klientin auf das Einfordern der Wertschätzung von ihrem System ehrlich, aber nicht wahr war: Sie hockte auf dem Boden und weinte. Es veränderte sich dadurch nichts. In meinem Körper, den ich zur Überprüfung von wahr / unwahr heranziehe (Was mir bei allen anderen leicht fällt, aber natürlich nicht so wundervoll leicht bei mir selbst ;-) ), floss nichts. Ich sprach die Klientin auf, stellte sicher, dass sie mir zuhören kann und klärte sie darüber auf, dass sie sich gerade in Schutzanteilen, für die ich die Arbeitsbezeichnung "Drama" verwende, befindet und sie dadurch nichts verarbeitet. Sie ließ sich auf meine Wahrnehmung ein, beendete das "Drama" (bitte nicht abfällig verstehen! Wenn man im "Drama" steckt, fühlt es sich verdammt real und schrecklich an!) und fing an, sich der Wertschätzung zu nähern. Übrigens beinhaltet der Ausdruck von echtem Schmerz meistens kein Drama. Viele Klienten sind überrascht, dass der echte Schmerz so ruhig ist. Zum ersten Mal spüren sie vielleicht das Kraftvolle am Schmerz, der etwas ganz anderes ist als Leid, das uns Kraft raubt und in die immer wieder gleichen Muster zurückführt. Leiden kann also durchaus ehrlich sein, trifft aber nicht die Wahrheit, verweist aber indirekt auf den wahren Schmerz, cachiert ihn sozusagen durch Leid – eine Maßnahme, die uns im Gleichgewicht halten kann, und das über eine längere Zeit.2

Wahrheit, Wahrheit, wo bist du?

Es scheint paradox zu sein: Die Wahrheit ist also direkt hinter der Lüge versteckt, also mehr als zum Greifen nah. Und gleichzeitig ist sie außerhalb unserer Wahrnehmung. Jedenfalls ist es ein guter Trick, vorzutäuschen, etwas wäre weit weg und unerreichbar, dabei ist es direkt da. Wir müssen also gar nicht so weit suchen, sondern einfach direkt hinschauen, also einmal in den Spiegel schauen oder an die eigene Nase fassen. Der Spiegel darf dabei über keine extra Funktionen verfügen: nicht verschönern, nicht schlanker machen, aber auch nicht schlechter darstellen usw... Also nicht das zeigen, was wir sehen wollen, sondern das, was wirklich da ist. Und hier spielt die Psyche uns auch gern einen Streich, täuscht uns einen echten Spiegel vor, der aber keiner ist. Das Leben ist schlauer. Die Menschen und die Umstände sind Ihr Spiegel. Auch Ihre Symptome und Konflikte. Schauen Sie genau hin!

Verdrehung der Wahrnehmung

Die Selbsttäuschung geht häufig mit Verdrehungen einher. Das, was wahr und uns eigen ist, erscheint uns fremd und gefährlich. Die Lüge erscheint heimelig und vertrauenswürdig. Wer bereit ist, wird die Täuschung erkennen. Ich beobachte, dass es in Sitzungen häufig der Fall ist, dass genau das Gegenteil von dem wahr ist, was die Klienten vom Kopf her vermutet haben. Ein Beispiel: Eine Klientin platziert einen schwarzen Anteil, der ihr im Nacken sitzt und ihr Angst macht. Aus der psychotherapeutischen Erfahrung heraus könnte man sagen: Das ist vielleicht eine Bezugsperson, die noch im Nacken sitzt, oder ein Glaubenssatz oder man hat die Kontrollfunktion so verinnerlicht, dass man jetzt sich selbst im Nacken sitzt, damit man bloß nicht zu weit vom (sicheren) Fleck kommt. Bewegt sich der Mensch doch vom Fleck, kommt Angst und manchmal sogar Bedrohungsgefühle auf. So auch bei der Klientin. Im Laufe eines längeren Prozesses hat sich herausgestellt, dass das Schwarze etwas Sicheres und Heimeliges ist. Etwas, das auch ein Teil von ihr ist, aber auch universell. Das war sehr überraschend, denn die ursprüngliche Annahme wies in die entgegensetzte Richtung. Im späteren Verlaufe des Prozesses zeigte sich das Schwarze als das Universum – dort kommen wir alle her, dort gehen wir wieder hin und wir sind immer damit verbunden, ein Teil davon. Wie kommt man denn dazu das Universum als bedrohlich zu empfinden? Die Erklärung liegt in einer Assoziation, die ich so bereits häufig in Sitzungen erlebt habe: Die Zeit im Mutterleib wurde als bedrohlich empfunden. Am Anfang ist die Mutter das Universum. Und so verknüpft es sich: Die Erfahrung mit dem Mutter-Universum überträgt sich auf das Gesamtuniversum. Das Gefühl der Bedrohung sicherte gleichzeitig damals das Überleben mit dieser Mutter. Voilà: eine Verdrehung, auf einmal ist das Universum eine Gefahr für Leib & Leben! Im Nachhinein ist die Ursache der Verdrehung absolut schlüssig, am Anfang ist die Feststellung der Verdrehung natürlich überraschend...

Welt aus Lügen und Konstrukten

Wir leben in einer Welt, die vor Lügen und Konstrukten nur so wimmelt. Ein sensibles und intelligentes Kind, das beim Aufrechterhalten der Konstrukte und Lügen nicht mitmachen will, hat es in dieser Welt schwer. Es hält an der eigenen Wahrheit fest, gibt aber auch einiges an Wahrheit auf, um zu überleben. Das Aufgegebene ist aber nicht verloren, sondern stellt eine neue Aufgabe dar. Holen wir's zurück!

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Halte ich mich für einen ehrlichen Menschen? Halte ich Ehrlichkeit für ein hohes Gut? Wo sind für mich die (sozialen) Grenzen der Ehrlichkeit? Über welche Punkte will ich von anderen keine ehrliche Meinung hören, besonders wenn ich nicht darum bitte ("Du hast aber einen wunderschönen Pickel auf der Nase!") Wie reagiere ich auf solche ehrlichen Bemerkungen? Bin ich dann ebenfalls ehrlich? Oder schlucke ich es herunter und lasse mir nichts anmerken?
  • Gibt es etwas, was ich noch nicht ausgedrückt habe? Gedanken? Emotionen? Bedürfnisse? Steht vielleicht ein Gespräch mit jemandem an, dem gegenüber ich mich ehrlich ausdrücken sollte? Bin ich reif dafür oder drücke ich mich noch?
  • Gibt es eine Wahrheit (oder mehrere) in mir, die noch auf ihre Entdeckung warten? Welche (körperlichen, emotionalen, beziehungstechnischen) Symptome weisen darauf hin? Bin ich bereit, diese Wahrheit zu entdecken?
  • Welche (Entwicklungs-)Aufgaben stehen bei mir an? Weiß ich das oder kommunizieren sie nur in Form von Symptomen mit mir, so dass ich sie noch nicht entschlüsseln kann? Oder habe ich Ahnungen, Ideen, vielleicht Träume oder Bilder?
  • Durschaue ich die Konstrukte, die Lügen und die Verdrehungen in der menschlichen (sozialen, politischen, kulturellen) Welt? Wie gehe ich damit um? Kann ich Frieden damit schließen oder kämpfe ich dagegen an? Oder kümmere ich mich lieber um meine eigenen Verdrehungen? Komme ich mit dem kollektiven Schmerz der Menschen in Kontakt? Wenn ja, wie gehe ich damit um?

 

Fußnoten 

1. Manche Erwachsenen unterstellen Kindern sogar eine böse Absicht oder einen Provokationswillen, v. a. weil einige Kinder dabei lächeln. Wenn Erwachsene noch weiter aufdrehen, müssen auch Kinder aus ihrem Körper raus. Sie werden dann gefühllos... Das Lächeln ist eher ein indirekter Ausdruck von Scham ("Ich bin ungefährlich, tu mir nichts."), wird aber von vielen Erwachsenen als Schadenfreude und Provokation interpretiert, was mehr auf die eigenen Projektionen und Wunden schließen lässt. Wer hier den Schuh dem Kind zuschiebt, übernimmt keine Verantwortung für die Beziehung zum Kind, verlangt sogar (unbewusst) vom Kind, die Erwachsenen-Rolle zu übernehmen, die Beziehung förderlich zu gestalten und sich um die kindlichen Bedürfnisse des Erwachsenen zu kümmern. Ein Unterfangen, das ein Kind heillos überfordert. Einige Kinder nehmen aber diese Aufgabe an und werden pseudo-erwachsen und zu sog. Care-Takern. Sie können sich sehr gut um alle kümmern, nur um sich selbst nicht, und ergreifen gern "helfende" Berufe. ⮕ Zurück zum Text.

2. Leid ist eine geniale Möglichkeit, auf Schmerz zu verweisen und ihn gleichzeitig zu cachieren. Ein klassisches Beispiel: Ein Kind wird in einer Familie nicht so gesehen, wie es wirklich ist. Auf seine (wahren) Bedürfnisse wird nicht eingegangen. Der direkte Ausdruck ist dem Kind verboten: Es darf sich nicht wütend zeigen, denn das würde dem Selbstbild der Familie als einer liebenden Familie widersprechen, die sich um das Kind kümmert. Das Kind entwickelt stattdessen Bauchschmerzen und leidet darunter. Die Schmerzen sind echt, das Leid ist auch ehrlich, aber unwahr. Der wahre Schmerz ist verborgen und drückt sich indirekt durch das Leiden aus. Es ist eine gute Lösung für die Familie. Das Kind hat einen Kanal, seinen Schmerz indirekt ausdrücken und zumindest einige Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Gleichzeitig verdeckt er seine tiefe Wahrheit und gefährdet somit das Selbstbild der Familie nicht, was sein physisches und psychisches Überleben sichert. Das Leid des Kindes verstärkt aber das Muster der Familie: Das Mitleid und das Sich-Kümmern kommen ins Spiel, wobei das Objekt des Mitleids und des Sich-Kümmerns (also die Bauchschmerzen) nicht die Wahrheit sind. So kann aber – systemisch betrachtet – das Gleichgewicht im Familiensystem aufrechterhalten werden. Dem Leser graut es wohl, dass das Kind dafür einen hohen Preis zahlt. Aber so sind Kinder: Aus Liebe der Familie gegenüber unterdrücken sie das Eigene, sei es Lebendigkeit oder Schmerz.  ⮕ Zurück zum Text.

 

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