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Willst du du sein oder gut sein? Warum die „gute Hülle“ keine gute Wahl ist...

 

“All his life he tried to be a good person. Many times, however, he failed. For after all, he was only human. He wasn't a dog.”
― Charles M. Schulz

Inhaltsverzeichnis



Gut-sein-wollen als Grundlage des Selbstbildes

Was ist das Wichtigste im Leben? Ein guter Mensch zu sein? Kein Heuchler? Kein Verräter? Jemand, der nicht egoistisch ist? Vielleicht sogar selbstlos? Jemand, der sich für die Belange von… Kindern, Tieren, Natur und Umwelt usw. einsetzt? Kein Klimasünder? Jemand, der tolerant ist? Jemand, der solidarisch ist? Jemand, der für das Gute kämpft? Oder zumindest auf der richtigen Seite ist? Dem Leser fallen sicherlich noch mehr Dinge und Beschreibungen ein, um die sich diese Aufzählung ergänzen und erweitern ließe. Sie erkennen: Die inhaltliche Füllung des Konzepts eines guten Menschen entspringt auch ein Stück dem Zeitgeist. Man könnte natürlich einwenden, dass das Gutseinwollen der Natur des Menschen geschuldet ist, aber ist das wirklich so? 

„Wenn Sie gut sein wollen, können Sie nicht Sie selbst sein!“

Manchmal sage ich zu meinen Klienten (die alle an bestimmten Punkten gut sein wollen): „Wenn Sie gut sein wollen, können Sie nicht Sie selbst sein.“ Klingt hart? Und spült dazu noch einiges an altem Schmerz und ggf. an Abwehr hoch? Schauen wir mal in die Tiefe! 

Die ersten Lebensjahre

Das Aufwachsen in unserer Kultur besteht in einer Überanpassung. Eine Anpassung an die Lebensumstände ist an sich nicht verkehrt, sofern das Eigene gelebt werden darf. Daher schreibe ich auch „Überanpassung“, eben auf Kosten des Eigenen und v. a. des bedingungslosen Selbstwertes. Den Selbstwert haben wir während unseres Aufwachsens nur selten als bedingungslos erlebt und gespiegelt bekommen. Meistens war das Spiegeln des Selbstwertes an Bedingungen geknüpft. Das heißt, einem Kind wird das Wertvoll-sein meist nur dann bestätigt, wenn es gut im Sinne der Eltern / des Kindergartens / der Schule ist. Tut es etwas, was eben nicht gut ist, werden ihm die Liebe und die Zuwendung entzogen. Die Alternative wäre, dem Kind zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist und ihm die Zuwendung nicht zu entziehen. Wie das konkret geht und wie es sich anfühlt, wissen die meisten von uns nicht. Wenn wir es versuchen, dann ist es verkopft und die Gesamtbotschaft unstimmig, denn die Energie fließt nicht, obwohl wir doch die richtigen Worte sagen. Der Grund: Wir haben von Anfang an verinnerlicht, dass etwas Nicht-Gutes-tun und den Selbstwert verlieren miteinander einhergehen, und zwar unzertrennbar. Das merken wir z. B. daran, wie schlecht wir uns fühlen, wenn jemand uns auf einen Fehler aufmerksam macht. Wir verbinden unseren Fehler automatisch mit dem Wert von uns als Mensch. Die Folge: Der gefühlte Selbstwert sinkt sofort in den Keller. Daher das miese Gefühl. Vom Kopf her lässt sich diese Verbindung übrigens nicht mehr trennen, auch wenn wir irgendwann schlaue Bücher gelesen haben, in denen steht, dass Wert (Mensch) und Verhalten nicht dasselbe sind. Die Erkenntnis ist zwar zielführend, aber nicht direkt erleichternd oder verwandelnd. Zumal die Gut-Sein-Hülle in vielen Fällen fest angewachsen ist. Und dann komme ich im freiRaum mit meinem „Wenn Sie gut sein wollen, können Sie nicht Sie selbst sein!“ und will die zweite Haut von der ersten abtrennen, so Stück für Stück! Oder gar abreißen! Autsch. Zumal die Verschmelzung der „guten Hülle“ mit der eigentlichen Haut bereits so früh stattfand, dass man nicht einmal merkt, dass sie fremdartig ist und eine zusätzliche Schutz-Schicht (also eine Ego-Schicht) darstellt. Man merkt dann auch nicht, wie man damit manipuliert, besonders wenn man sich für die Underdog-Variante entschieden hat. Man ist freundlich, bescheiden, nett, stellt keine hohen Ansprüche, ist dadurch beliebt und gern gesehen. Diese falsche Bescheidenheit ist auf eine verdeckte Art zutiefst arrogant, denn sie lässt den Selbstwert in die Höhe schnellen. An einigen Stellen bricht die Arroganz auch sichtbar aus, indem man sich z. B. anderen Menschen moralisch überlegen fühlt und es sie fühlen lässt. Gefährlich wird es, wenn man die moralische Überlegenheit als Rechtfertigung für sein Verhalten benutzt. Aus der Geschichte wissen wir, dass dies in schlimmste Gräueltaten münden kann.

"Wenn ich kein guter Mensch mehr bin, was bin ich dann?"

Ist es denn nun verkehrt, ein guter Mensch sein zu wollen? Oder gar schlecht? Was für eine Ironie: Es ist also schlecht, ein guter Mensch sein zu wollen? Wie man so schön sagt: Mit guten Absichten pflastert sich der Weg in die Hölle. Das Gut-Sein ist aus einer Manipulation entstanden, aus einem Selbstverrat. Man hat den eigenen bedingungslosen Wert gegen den Preis des Gut-Seins eingetauscht. Das war damals ein gutes Geschäft zu Überlebenszwecken. Dazu hat man zusätzliche Schutzkleidung (eine Schicht „gutes Ego“) bekommen. Und heute? Heute fängt die Hülle an zu schmerzen, an allen möglichen Stellen. Dass es etwas mit dem alten „Deal“ zu tun hat – damit bringen wir es nicht in Verbindung. Wie denn auch? Wer wird sich schon freiwillig eingestehen wollen, dass er sich mit dem Gut-Sein-Wollen oder auch mit dem Gut-Sein verraten und verkauft hat und es immer noch tut? Auch die eingebauten Schutzmechanismen sind stark, denn sie denken in Gegensätzen. Beispiel: „Wenn ich nicht mehr ein guter Mensch sein will, werde ich ein böser Mensch werden.“ Ach, wirklich? Bitte einmal die Brillen absetzen – die der eigenen Eltern und die, mit denen man mittlerweile auf sich selbst guckt. Was passiert denn nun wirklich, wenn ich kein guter Mensch mehr sein will? Werde ich raubend, mordend und vergewaltigend durch die Straßen ziehen? Wohl nicht! Oder: „Wenn ich mit dem Gut-sein aufhöre, weiß ich nicht mehr, wer ich bin / werde ich vernichtet.“ Damit ist man schon näher am Kernthema dran. Tatsächlich hat man seine eigentliche Identität verdeckt und mit der „guten Hülle“ (s. den Artikel zur Identifizierung) übernäht. Trennt man die Hülle wieder ab, weiß man im ersten Moment nicht, was da zum Vorschein kommt. Gar nichts vielleicht? Eine gähnende Leere? Der Tod? Die Vernichtungsgefühle sind auch nicht ganz unbegründet und gehen auf gescheiterte Versuche zurück, seine ursprüngliche Hülle so behalten zu wollen, wie sie ist.

Ein Praxisbeispiel: die „gute Hülle“, Opfer und Täter sein

Eine Klientin von mir hat sich in einer Sitzung intensiv mit dem Thema „Gut-sein“ auseinandergesetzt. Zurückverfolgen ließ sich ihre „gute Hülle“ auf Erfahrungen des Verlassenwerdens. Um ihre Eltern zurückzuholen entschied sie sich dafür gut zu sein. Passend zur Familiengeschichte und zu unseren gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen bekommt man dazu auch passende Rollenmuster vererbt. Und so erkannte sie, wie sich hinter ihrem guten Antlitz eine hasserfüllte und böse Mine versteckte, die allen Schmerzen zufügen wollte, die ihr jemals Leid zugefügt haben. Und dass sie auch fleißig die Opferrolle nutzt und ihre Verantwortung abgibt und so gleichzeitig hintenrum die Täterrolle bedient und manipuliert. Eine grausige Erkenntnis. Gleichzeitig hatte sie Angst, aus diesen Mustern auszusteigen und so die Verantwortung zu übernehmen, da sie dann die Quittung bezahlen müsste. Bis ihr klar wurde, dass sie so oder so eine Quittung bekommen wird! Ich habe höchsten Respekt vor Menschen, die sich auf das Erkennen der eigenen Motive einlassen und was man sich da so daraus gebastelt hat. Die gute, höfliche, rücksichtsvolle und freundliche Hülle hat natürlich viele soziale Vorteile. Sie kommt einfach gut an. Es ist angenehm mit diesem Menschen. Er ist so unkompliziert, hat immer gute Laune und gute Vibes. Dahinter der horrende Preis, den er dafür zahlt.

Verwechslungsgefahr: Integrität vs. "gute Hülle"

Nicht zu verwechseln ist die "gute Hülle" mit jemandem, der authentisch ist, seiner Integrität entsprechend handelt und durchaus Gutes bewirkt. In diesem Fall ist der bedingungslose Selbstwert wiederhergestellt und die Grundlage des Handelns. Dieser Mensch sucht nicht nach Bestätigung und Anerkennung im Außen, sondern handelt nach eigenen Maßstäben. Sein Ziel ist auch nicht, jemanden zu überzeugen, ob von seinen Ideen oder von seinem Wert, sondern zu leben und zu wachsen. Vergleichbar wäre er mit einem Baum. Können Sie sich einen Baum vorstellen, der gut sein will? Nein? Ich auch nicht! Der Baum will nicht gut sein. Er will einfach sein, wachsen und sich nach seinen Möglichkeiten entfalten. Auch ist er gut und stimmig in die Natur eingebunden und lebt im Einklang mit anderen Bäumen und Pflanzen und mit Tieren, Insekten und Pilzen. Er nimmt sich das, was er braucht; nicht zu viel und nicht zu wenig. Er gibt das ab, was er im Überfluss hat. Auch hier: genau im Gleichgewicht; nicht zu viel und nicht zu wenig. Im Unterschied zu einem Baum kann sich der Mensch allerdings auch aufrichtig darüber freuen, wenn er bei jemandem etwas bewirkt hat oder jemandem helfen konnte. Und natürlich lässt sich das Konzept der Integrität (wie jedes andere auch) abstrakt leben. Man trennt also wieder den Kopf vom Körper, geht in den Schutz und erschafft sich eine zweite Haut, ähnlich wie die "gute Hülle", was dann aber mit der wahren Integrität nichts mehr zu tun hat.

Die „gute Hülle“ ist Standard

Unsere Beziehungen lassen sich häufig auf den Aspekt reduzieren, dass wir uns gegenseitig die „gute Hülle“, das Image, bestätigen. Dass wir uns so weiter sehen können, wie wir uns sehen und wie wir von anderen gesehen werden wollen. Tun wird es nicht, geraten wir in einen Konflikt. Daher ist jede Entscheidung, jemanden auf einen Fehler oder Makel hinzuweisen und beim Aufrechterhalten des Image nicht mehr mitzumachen, immer schwerwiegend, bringt sie doch gleich die ganze Beziehung in Gefahr: Wir könnten ausgestoßen werden! Das ist total verrückt! Und es ist nicht die Art von Beziehungen, egal ob Partnerschaft, Freundschaft, Eltern-Kind-Beziehungen usw., die wir als Menschen brauchen. Was wir brauchen, ist eine Beziehung, die nicht nur schönes Wetter abkann, sondern auch Regen, Gewitter und sogar einen Sturm. Aber wir haben kein bis wenig Vertrauen, dass es sein kann, da wir es nie so erlebt haben. Und so halten wir uns zurück und schützen so die „gute Hülle“ des anderen und unsere eigene auch. Vielleicht ist es an der Zeit die „gute Hülle“ zu verbrennen und mit diesem Spiel aufzuhören? Sind Sie dabei?

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Hand aufs Herz: Will ich gut sein?
  • Was passiert, wenn ich nicht gut bin? Wenn ich etwas Falsches oder etwas moralisch Verwerfliches gemacht habe? Wenn ich (m)einem Anspruch nicht gerecht wurde und den Schein der „guten Hülle“ nicht aufrechterhalten kann? Was unternehme ich gegen das miese Gefühl? Äußere ich Vorwürfe? Trinke ich Alkohol? Stopfe ich mich voll (und erbreche dann)?
  • Wie lasse ich mir von meinen Mitmenschen mein Gut-Sein bestätigen? Wie bekomme ich Anerkennung und Bestätigung? Die Zusicherung der Zugehörigkeit? Bin ich ein besonders wertvoller Mitarbeiter, der alles für die Firma tut? Oder opfere ich mich für die Familie auf? Oder bin ich besonders gut im Gut-sein, indem ich mich an alle Regeln und Vorgaben halte? Und vielleicht sogar noch andere kontrollieren, ob sie es auch tun?
  • Erkenne ich mein eigenes Täter-sein, indem ich die „gute Hülle“ anziehe? Erkenne ich das Bösartige, das Manipulative der „guten Hülle“?
  • Wie wäre es damit, wenn ich ab jetzt klar und direkt kommuniziere, was ich will und was ich brauche? Ganz ohne die „gute Hülle“, die Opfer- und Täterrolle? Was würde dann passieren?
  • Kann ich mir vorstellen, dass ich als Mensch einen bedingungslosen Wert habe? Habe ich eine Kopfvorstellung davon oder kenne ich auch das dazugehörige Körpergefühl? Öffnet sich vielleicht sogar ein Tor zu der tiefen Trauer, die an den ursprünglichen Verrat des Selbstwerts erinnert?
  • Halte ich mich für einen Menschen, der nach der eigenen Integrität handelt? Wenn nicht, was würde passieren, wenn ich es ab jetzt tun würde? Kenne ich das Gefühl der Integrität als Körpergefühl oder nur als Idee?

 

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