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Alle meine Anteile: der innere Richter

 

Inhaltsverzeichnis

 

Der innere Richter, auch der innere Kritiker genannt, ist der Anteil, der über alles und jeden, auch über sich selbst, ein Urteil fällen muss. Die Stimme kann netter oder weniger nett klingen. Von "Ich Idiot" bis "Was hast du denn schon wieder gemacht, Schatzi?" ist alles dabei. Im Vordergrund liegt die Schuld bzw. das schlechte Gewissen, es wieder nicht gut geschafft zu haben, wie ein Riesenstein. Das Handeln zielt darauf hinab, diesen Schuld-Berg zu minimieren. Die Vorwürfe und die Urteile sollen einen auf den rechten Weg bringen. Aus irgendeinem Grund bleibt der Stein aber genau da liegen, wo er schon immer war, und vielleicht wächst er sogar noch. Mit jedem Urteil und jedem Vorwurf entsteht da eine extra Schicht. Dabei haben auch die unkonstruktivsten Vorwürfe ihre symbolische und hintergründige Seite. Dazu aber später mehr. Die Schuldminimierung ist also nur einer der Punkte. Schauen wir uns die anderen mal an!

Das hintergründige Ziel des inneren Richters

Das Ziel des inneren Richters ist das Stabilhalten des Selbstwerts. Er sorgt dafür, dass der Mensch am Ende des Tages Bilanz zieht: Was habe ich heute geschafft und was davon war gut? Fällt die Bilanz positiv aus, gibt es Hoffnung auf ein zumindest kurzfristiges Wohlgefühl. Fällt sie negativ aus, muss sich der Mensch am nächsten Tag mehr anstrengen, was irgendwann nicht mehr geht. Dass man dabei Raubbau an Körper und Seele betreibt, kommt meist erst später heraus. Viele junge und erfolgreiche Menschen können das noch eine Zeit lang ohne erkennbare Symptome und Krankheiten betreiben. Das geht aber nicht sehr lange gut.

Yin-Yang-Ungleichgewicht

Ein Mensch, der seinem inneren Richter gehorcht, befindet sich permanent in einem Yin-Yang-Ungleichgewicht. Das Yang steht für die aktive Seite und da ist der Mensch sehr beschäftigt: Ständig muss er etwas tun, um seinen Selbstwert stabil zu halten. Alles auf der Welt strebt aber einen Ausgleich an. Der Tag steht für Yang, die Nacht für Yin. Ginge es nach dem inneren Richter, ist jede Nacht aber reine Zeitverschwendung und der Tag sollte mehr Stunden haben. Die Stunde des Yin schlägt aber irgendwann unweigerlich zu; es wird Zeit zu schlafen und sich zu erholen oder zu träumen. Einige versuchen diesem Ausgleich zu entkommen durch noch mehr Aktivität oder durch z. B. Koffein. Andere geben dem nach mit der Konsequenz, dass danach ihr Selbstwert erst recht gegen Boden sinkt: "Ich habe nur gefaulenzt und in der Zeit nichts geschafft!" Anschließend strengen sie sich wieder an, absolut yang-mäßig, den während der Yin-Zeit vermeintlich verlorenen Selbstwert wieder auszugleichen. Das nächste Yang-Türmchen wird fleißig gebaut, begleitet von der Stimme des inneren Richters. Das Spiel beginnt von vorn.

Die Orientierung an den anderen

Das Über-sich-Richten geht häufig mit einer Orientierung an etwas oder jemand anders einher. In der Yang-Phase braucht der Mensch ein Objekt, an dem er sich abarbeiten kann. Dieses Objekt, bzw. seine Beeinflussung, liefert dann die Grundlage für den Selbstwert. Als solche Objekte können auch andere Menschen dienen. Der Betroffene macht sich also viele Gedanken, was der andere Mensch von ihm wohl erwarten und denken würde, und versucht das zu erfüllen. Der innere Richter springt dann ein, wenn Bilanz gezogen werden muss. Oder er geht schon davor hart ins Gericht, um das Handeln den vermeintlichen Erwartungen von wem auch immer möglichst gut anzupassen. Hier spielen natürlich der Wunsch nach Kontrolle und die dahinterliegende Angst vor Kontrollverlust eine große Rolle. Der Betroffene hat ein Bild von sich zementiert, das er gerne von außen bestätigt haben möchte, wieder mal zwecks Selbstwertstabilisierung. Und so muss er versuchen, die anderen zu kontrollieren und sich in sie "reinzuhacken", damit er entsprechend handeln kann. Manchmal funktioniert es, meistens aber nicht, da Menschen nun mal keine Objekte sind und ihre eigenen Themen haben und etwas ganz anderes denken und fühlen, als der vom inneren Richter Getriebene es wahrhaben will. Im Endeffekt benutzt er sie nur für seine narzisstischen Zwecke. Und so entstehen Konflikte, weswegen der Betroffene wieder mal hart mit sich ins Gericht geht. Er interpretiert den Konflikt als etwas, was 1) seinen Selbstwert bedroht und 2) was er hätte vermeiden können. Dabei bedroht der Konflikt nur sein konstruiertes Selbstbild und niemals den wahren Selbstwert. Im Gegenteil weist der Konflikt auf die sowieso vorhandene innere Spannung und Gespaltenheit und eine Möglichkeit der Lösung dieser Spannung hin. Dass er glaubt, er hätte den Konflikt vermeiden können, verschafft ihm die Illusion der Omnipotenz, was das Muster weiter verfestigt.

Die Lösung

Zur Lösung führen mehrere Wege, die am besten gleichzeitig eingeschlagen werden sollen:

  • Das Anerkennen des Yin, das bewusste Leben und Erleben dieser "passiven" Zeiten.
  • Die Verbindungswiederherstellung mit dem eigenen wahren Selbstwert, der stabil ist und von Natur aus keinen Schwankungen unterliegt.
  • Die Zusammenarbeit mit dem inneren Richter: Worüber urteilt er wirklich? Häufig werden seine Urteile an Alltägliches gebunden und in Dinge hineininterpretiert, die nicht gemeint sind. Hier gilt es herauszufinden, was er in Wirklichkeit an uns auszusetzen hat.
  • Die zugrundeliegende Liebes- und Vertrauensverletzung muss geheilt, die daraus entstandenen harten Denk- und Gefühlsmuster losgelassen werden.

Folgendes habe ich in einer Sitzung erlebt: Die Klientin stand etwa 2,5-3m von ihrem inneren Richter entfernt, der auch entsprechend über sie urteilte und den Zeigefinger hob. Ich machte sie auf Punkt 3 aufmerksam: Sie sollte herausfinden, worüber sie in Wirklichkeit so hart mit sich ins Gericht geht. Das waren dann auch keine alltäglichen Dinge, die sie angeblich nicht gut gemacht hat, sondern etwas Grundsätzliches. Der innere Richter meinte: "Ich urteile über dich, weil du lieblos und hart zu dir (und zu den anderen) bist." Das ist mal eine Ansage! Die Klientin ließ sich darauf ein, sodass die Position des inneren Richters ihr etwas näher kommen konnte. Der innere Richter verwandelte sich dadurch auf einmal von einer urteilenden Instanz in eine Instanz voller Mitgefühl. Möglich wurde es durch die ehrliche Auseinandersetzung der Klientin mit sich selbst, denn sie hat ihr Urteil angenommen und mit den Fehlinterpretationen aufgehört. Das Spannende an dem Ganzen ist, dass es an sich relativ schnell in eine Lösung führt, wenn da nicht eine Sache wäre. Das Mitgefühl weckt die alten Liebesverletzungen und Bindungstraumata, so dass das Mitgefühl, dass einem entgegenströmt, schlimmer erscheinen kann als die Vorwürfe und Schuldzuweisungen. So auch bei dieser Klientin: Konnte sie mit Urteilen und Vorwürfen noch einigermaßen umgehen und sie auch annehmen, so musste sie sich gewaltig überwinden, um überhaupt ein bisschen Mitgefühl rüberschwappen lassen zu können. Alte nie verheilte, teils eitrige Wunden mit zigtausend Pflastern zugeklebt drohten aufzubrechen. Wir beließen es bei kleinen Schlückchen, so wie auch man nicht sofort viel Nahrung und Flüssigkeit aufnehmen kann nach einer Fastenzeit.

Die Liebesverletzung heilen

Die Härte des inneren Richters ist eine Art Abhärtung gegenüber erlittenen Liebes- und Vertrauensverletzungen, z. B. in sehr nahen Bindungen, also meist in Eltern-Kind-Bindungsdynamiken. An dieser Stelle wird die Schwierigkeit des Annehmens noch weiter erhöht. Beschäftigt man sich mit der ursprünglichen Liebesverletzung, kommt ein innerer Anteil auf den Plan, der einem genau das vorwirft, was man sonst den Menschen in seinem Umfeld vorwirft, und zwar, dass sie einen nicht sehen, wie man ist, und nicht wertschätzen. Das können sie auch gar nicht, denn sie spiegeln auch nur das eigene innere Problem: Der Mensch sieht sich selbst nicht.

Sehen geht mit den Augen und ist nicht dasselbe wie Schauen oder eben mal Gucken. Es ist ein genaues Hinsehen, ein Aufnehmen der Energie durch die Augen. Damit der Anteil geheilt werden kann, muss also der Klient seine Vorwürfe akzeptieren: "Ja, ich habe dich nicht gesehen. Ich schaue vielleicht nur eben hin, wenn überhaupt, aber ich sehe dich nicht." Als nächsten Schritt muss er sich auf das Sehen einlassen. Und hier kommt wieder die häufigste Schwierigkeit: Man steht vor dem, was man sich schon die ganze Zeit sehnlichst gewünscht hat, und kann es nicht annehmen.* Es ist einfach zu beschämend, zu schmerzhaft, zu unangenehm. Ohne Selbstüberwindung geht an dieser Stelle nichts und so musste auch die Klientin in kleinen Portiönchen das Sehen aus- und durchhalten und das Gesehene in sich aufnehmen. So konnte die Liebesverletzung zumindest ein Stückchen geheilt werden. Ein guter Anfang auf dem Wege der inneren Heilung.

 

*In der Phantasie träumt der Klient, dass endlich ein Mensch in sein Leben kommt, wie ein sehr guter Freund, der ihn so annimmt, wie er ist, und ihn so sieht, wie er ist. Das ist eine Illusion, denn die Wahrheit ist, dass der Klient so einen Menschen nicht einmal erkennen und in sein Leben lassen würde, geschweige denn diese Energie des Gesehen-Werdens, die hochfrequent ist, annehmen. Sie wäre für ihn nämlich im wahrsten Sinne des Wortes unerträglich.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie gut kenne ich den inneren Richter? Habe ich Urteile und Vorwürfe ständig in meinem Kopf wie ein Dauerradio laufen oder sind wir eher flüchtige Bekannte? Wann ist der innere Richter besonders präsent? Was sagt er? Wie sehr lasse ich mein Leben durch den inneren Richter bestimmen?
  • Bin ich bereit, die Vorwürfe und Urteile des inneren Richters auf ihren symbolischen Gehalt hin zu untersuchen? Kann ich mir vorstellen, dass ich bislang ggf. falsche Schlüsse aus den Vorwürfen gezogen oder sie falsch interpretiert habe? Was steckt denn in Wirklichkeit hinter den Vorwürfen?
  • Wie steht es um meinen Selbstwert? Versuche ich immer noch etwas für den Selbstwert zu tun statt ihn einfach zu haben und zu leben? Kenne ich meinen absoluten Selbstwert überhaupt?
  • Wer oder was hat mich in meinem Leben am meisten verletzt? Bin ich bereit, meine Verletzungen zu heilen und an die alten nie verheilten Wunden endlich Luft zu lassen?

 

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