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Alle meine Lügen... Warum wir uns gern belügen und Angst vor der eigenen Wahrheit haben

 

Eine Eigenvariation des bekannten Kinderliedes:

Alle meine Bilder
schwimmen auf dem See
Wahrheit in das Wasser
Lüge in die Höh'

Inhaltsverzeichnis

 

Selbstbetrug ist normal

Selbstbetrug zu betreiben ist etwas völlig Normales. Jeder von uns tut es. Ohne ihn wären wir in dieser Gesellschaft nicht überlebensfähig. Zumindest nicht in den ersten 10-20-30 Jahren. Oder zum ewigen Außenseitertum oder gar zu einem Daueraufenthalt in der Psychiatrie verbannt. So ab Mitte 20, manchmal aber auch erst viel viel später, setzt der Prozess des Erkennens an. Etwas stimmt nicht, obwohl vielleicht sonst alles stimmt. Es zeigen sich die ersten Symptome oder die alten werden schlimmer. Natürlich kann man sich damit auch arrangieren und es auf die Gene schieben: Die Migräne, die schlechten Zähne, die Anfälligkeit für Mandelentzündungen usw. habe ich nun mal geerbt. Oder es liegt an der berühmten Schwachstelle, die jeder von uns hat. Ich bin z. B. für Erkältungen und Mittelohrentzündungen durchaus bekannt. Eine Mandelentzündung hatte ich hingegen noch nie. Nicht mein Schwachpunkt, nicht mein Thema. Oder aber es liegt an der Außenwelt: Man bekomme eben keinen festen Job mehr in diesen Zeiten und alle Menschen würden Selbstausbeutung betreiben oder andere ausbeuten. Sich aufregen über den Chef, der nicht genug zahlt? Und dann zum Discounter einkaufen gehen? Fremdgehen? Oder Beziehungen, die immer wieder auseinandergehen? Kennt doch jeder! Seinem Partner Schmerzen zufügen und es dann bereuen? Oder Selbstmitleid haben? Oder gute Ausreden finden, warum eine Veränderung nicht möglich ist („Die Muster sind schon sooo alt. So schnell lassen sie sich garantiert nicht ändern! Das musst du doch einsehen.“) Und dann in die nächste Runde gehen? Sich für einen guten Menschen halten? Oder für einen, der fast perfekt ist und keine Fehler gemacht hat? Sich als jemanden sehen, der 100% Recht in einer Sache hat? Und im nächsten Moment jemandem Vorwürfe an den Kopf werfen, der dem eigenen Bild widerspricht? 

Selbstbetrug in der Sprache

Selbstbetrug ist tief in der Sprache verankert. Man findet ihn in vielen Redewendungen und Floskeln.

„Alles wird wieder gut!“ – Es wird vielleicht irgendwann gut, aber man weiß nicht wann und wie. Und es wird ganz bestimmt nicht so, wie es war, denn nichts lässt sich ungeschehen machen. Insofern hat dieser Satz etwas vom magischen Denken des Kindes. Illusion pur.

„Das hat mir auch nicht geschadet!“ – offensichtlich doch und zwar gewaltig, denn man würde sonst nicht so eine empathielose Aussage von sich geben!

„Ich hatte eine gute Kindheit. Meine Eltern waren immer gut zu mir.“ – Dann müssen das Außerirdische gewesen sein. Eltern aus Fleisch und Blut haben ihre blinden Flecken, ihre Ecken und Kanten und ihre Begrenzungen. Sie sind nie immer nur gut oder nur schlecht für ein Kind. Jedes Kind macht Erfahrungen des Nichtverstanden- und Nichtgesehenwerdens. Es macht Erfahrungen von Einsamkeit, Verlassenheit und Schmerz. Liebesentzug ist DAS Erziehungsmittel in unserer Kultur. Und: Es ist nicht alles einfach nur gut oder nur schlecht. Diese Aussage verallgemeinert und schneidet die Erfahrungswelt mit all ihren Nuancen und auch den eingekapselten Schmerz komplett ab.

„Alles nicht so schlimm.“ – Das ist auch eine Lüge, die (Selbst-)Beruhigung zum Zweck hat. V. a. dient sie aber der Abwehr von unangenehmen Gefühlen: Enttäuschung, Wut, Trauer... Dann isst man vielleicht etwas Leckeres dagegen an. Es ist nur ein Stückchen Schokolade. Oder man schaut sich zur Ablenkung einen Film an. Oder trinkt ein Gläschen Wein. Ein Gläschen schadet ja nicht und ein (Alkohol-)Problem hat man deswegen doch noch überhaupt nicht! Jeder macht doch so etwas ab und zu mal. Alles völlig normal. 

Die Lüge der Normalität

Wo wir beim Thema „normal“ sind – dieses Normale ist auch so eine Lüge. Nur weil etwas normal, also weit verbreitet ist, ist es deswegen noch nicht gesund und auch nicht wahr. Nur weil eine große Mehrheit etwas behauptet, muss es noch nicht stimmen. Nur weil fast alle 8 Stunden am Tag arbeiten, muss es nicht meinem inneren wahren Bedürfnis entsprechen, mich auf meine Art in gesellschaftliche und arbeitstechnische Vorgänge einzubringen. Messen wir dann unser Bedürfnis an dieser äußeren „Normalität“, kommen wir zum Schluss, dass wir nicht normal sind. Das ist auch eine Lüge, denn unser Bedürfnis ist echt und wahr. Die Lüge hat aber auch Vorteile, z. B. eine Opferrolle oder eine Krankheit, weswegen wir sie (unbewusst) aufrechterhalten, uns so der (echten) Auseinandersetzung entziehen und auf den Nebenschauplätzen aktiv werden, statt nach konstruktiven Möglichkeiten zu suchen, dem Bedürfnis zur Erfüllung zu verhelfen. Und so beschäftigen wir uns individuell wie kollektiv häufig mit Symptombekämpfung. Wir versuchen also für eine Lüge eine Lösung zu finden, statt Ursachenforschung zu betreiben und so zur Wahrheit vorzudringen, die das Symptom obsolet machen würde. Der Vorteil der Symptombekämpfung ist, dass man das (Lügen-)Bild aufrechterhalten kann, man hätte ein aufrechtes Interesse daran ein Problem zu lösen. Tatsächlich investiert man dann auch viel Zeit, Geld und Kraft und es sieht ganz danach aus, als würde man sich aufrecht bemühen. Und wenn es nicht klappt, dann kann man vielleicht sogar mit Mitleid rechnen. Man habe sich doch sooo bemüht! Und es habe trotzdem nicht geklappt. Was für eine Illusion...

Wir lügen unseren Wert herunter

Es gibt auch Lügengebilde, bei denen man extra untertreibt, um nicht das, was angemessen oder möglich wäre, zu erreichen. Klingt komisch? Warum sollte jemand freiwillig auf etwas Gegebenes verzichten, z. B. ein Fußballspiel gegen einen stärkeren Gegner doch noch im letzten Moment verlieren, indem man die sichere Torchance verschenkt oder gar den entscheidenden Elfmeter verschießt, wenn man doch gute Chancen auf einen Sieg hat? Würde man gewinnen, würden die Erwartungen in die Höhe schnellen. Und somit auch der Druck, sie zu erfüllen. Ein Selbstbildupdate wäre auch noch fällig. So bleiben viele Menschen doch lieber im 3-er Bereich, schulisch gesprochen. Die Erwartungen sind nicht allzu hoch und man gehört dazu. Man riskiert wenig. Dabei steckt in vielen Menschen noch eine Menge Potential, das auf Entfaltung drängt. Unterdrückt man es, bekommt man es wieder mal mit Symptomen und Konflikten zu tun, denn jedes Potential beinhaltet Energie und will zur Geltung kommen. Gemäß dem Energieerhaltungssatz verschwindet die Energie nicht, auch wenn der Mensch sie nicht direkt zum Ausdruck bringt. Sie sucht sich eben andere Wege, das nicht immer zu unserer Freude, dafür aber immer entwicklungstechnisch gesehen höchst akkurat.

Deine Lüge. Meine Lüge. Wir machen es uns zusammen gemütlich.

Viel Zeit verbringen wir auch damit, uns unsere Lügengebilde gegenseitig zu bestätigen und so den Anschein von Harmonie zu erwecken. Tun wir es nicht, kommt es zu Konflikten. Ob sie beigelegt werden können, hängt davon ab, ob die Parteien bereit sind, sich ihre blinden Flecken anzusehen. Etwas ausführlicher schreibe ich darüber im Beitrag über die „gute Hülle". Übrigens entsteht erst durch die Konfliktbearbeitung echte Harmonie. Die Harmonie davor ist scheinheilig. Frei nach Homer Simpson: "Zum Lügen gehören immer zwei. Einer, der lügt. Und einer, der es glaubt." Die Schein-Harmonie tut aber so, als gäbe es keinen Konflikt, keine Spaltung. Oder man lügt es sich noch anders zurecht: „Wenn es diesen Menschen, der mich auf etwas Lügenhaftes hinweist, nicht gäbe, dann wäre die Welt in Ordnung.“ Wer's glaubt, wird selig! Und so leben wir in unserer doppel-illusorischen Phantasiewelt.

Lügen-Wolkenkratzer

Wenn wir von unseren Lügen nicht ablassen, müssen wir immer wieder welche produzieren. Grundsätzlich beschränkt sich die Wahl auf 2 Möglichkeiten: weiter zu lügen oder die Lügengebilde zum Einsturz zu bringen. Typischerweise entscheiden sich viele Menschen dafür, weiter in die Höhe zu bauen. Um eine Lüge aufrechterhalten zu können, muss eine neue draufgesetzt werden. Und so geht es immer weiter. Es entstehen auf diese Art und Weise eigenartigste Konstruktionen über viele Stockwerke – die Lügen-Wolkenkratzer eben. Ein gutes Beispiel dafür liefert die bekannte Serie "Breaking Bad".

Warum lassen wir von den Lügen nicht los?

Warum in Gottes Welt bleiben also Menschen so gern in ihren alten Mustern und versuchen, fast zu jedem Preis ihre Lügengebilde aufrechtzuerhalten? Nun, sie bringen bestimmte Vorteile. Es gibt aber auch eine rein biologische Komponente: Unsere primitive Schutzstruktur, das Ego, zielt nur auf das kurzfristige Überleben ab. Das erfüllen alle Lügengebilde ziemlich perfekt. Man überlebt JETZT. Was später ist, spielt keine Rolle. Zurück zu den psychologischen Vorteilen: Man muss sich nicht aus der Komfortzone herausbewegen. Der alte Schmerz, also die Wahrheit unseres Erlebens, bleibt unter Wasser. Die Lügengebilde haben etwas Vertrautes, Sicheres, auch wenn sie viele Probleme und Leid mit sich bringen. Jedenfalls weiß man, was man kriegt. Und das immer wieder. So behält man ein ganzes Stück Kontrolle. Denn die Wahrheit könnte so extrem sein, dass sie uns vernichten könnte, wie eine Riesenwelle, die alles zerstört und überflutet. Und dann haben wir schon sooo viel Zeit, Energie und manchmal auch Geld in unsere Lügen-Wolkenkratzer gesteckt. Das wäre doch sooo schade, sie zu zerstören. Liebgewonnen haben wir sie auch, es sind ja unsere Meisterwerke. (Kleinkinder ticken da noch ganz anders und zerstören mit Riesenspaß ihre Bauwerke.) Außerdem bestätigen die Lügengebilde uns immer wieder unser Loyal-Sein gegenüber der Familie, der Gesellschaft, der Kultur. Wer ist schon gern Verräter oder der Böse? Und so halten wir wie verrückt am Alten fest und beschweren uns, dass es nicht weiter geht. Der Clou dabei: In unserem (Lügen-)Bild hält uns etwas fest, sonst könnten wir ja losgehen. Dass wir diejenigen sind, die festhalten, übersehen wir geflissentlich. Und wir ahnen: Das, was nach dem Loslassen bzw. dem Einstürzen des Lügengebildes kommt, flößt uns Angst ein. Viele Menschen beschreiben diese Angst als Angst vor Veränderung, Angst vor Neuem, manchmal auch als Angst vor dem Sterben. „Vielleicht wird es danach alles nur noch schlimmer?“ „Soll ich wirklich das Risiko eingehen?“ „Dann gibt es aber kein Zurück mehr!“ Letzteres stimmt. Ein Zurück wird es danach nicht mehr geben.

Was wäre die Alternative?

Hätte ich Angst vor Neuem und vor Veränderung, könnte ich meine Arbeit nicht machen. Wie gehe ich also damit um? Ich vertraue darauf, dass der ur-eigene Entwicklungsprozess in jedem Menschen eingespeichert ist. So wie jede Blume sich aus einem Samen entwickelt, wächst, Blätter und Blüten entwickelt. Irgendwann fangen die Blüten an sich zu öffnen. Indem wir am Alten festhalten, ist es so, als würden wir die Blüte am Öffnen hindern wollen. Das gelingt auch z. T. und der Preis dafür ist horrend. Es wird ein Kampf. Ein Kampf gegen sich selbst, gegen die eigene Natur und Bestimmung (Dieser Kampf wird häufig projektiv gegen andere ausgetragen.). Eine Rose macht so etwas nicht. Sie folgt ihrem inneren Prozess, sofern es die Umwelt zulässt, also genug Sonne, Nährstoffe usw. da sind. Der Unterschied liegt also im Vertrauen. Hätte der Mensch genug Vertrauen in sich, würde er keine Angst mehr vor dem Einstürzen der Lügen haben, denn danach würde zwar etwas Neues kommen, aber etwas, was gleichzeitig sehr alt ist, da es in ihm von Anfang an angelegt war. Er könnte sich ruhig darauf verlassen, dass jede Veränderung ihn weiterbringt und in diesem Sinne auch sicher ist. Es ist auch sicherer, als in den Lügengebilden wohnen zu bleiben. Entweder wird die Miete irgendwann fast unbezahlbar oder das Leben selbst wird das Lügengebilde zum Einsturz bringen, das meist auf eine sehr unsanfte und radikale Art. Also, lassen wir die Lügengebäude einstürzen und schauen, welche Blüten sich dann öffnen! Sind Sie dabei? Oder zittern Sie noch vor Angst?

 

P. S.: Für die Philosophen unter den Lesern: Wahrheit und Lüge sind zwei Seiten einer Medaille. Wo die Lüge ist, da ist auch die Wahrheit. Daher bringt es auch nichts, direkt zur Wahrheit fortschreiten zu wollen, ohne sich mit sich selbst auseinandergesetzt zu haben. Psychologisch gesehen könnte man dann mit dem inneren Kind arbeiten. Ganz nach dem Motto: „Kindermund tut Wahrheit kund“. Wer es noch radikaler haben will, arbeitet mit dem inneren Teenager.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie sieht es bei mir aus? Welche Symptombilder sind mir vertraut? Welche bekomme ich nie? Was ist meine berühmte „Schwachstelle“?

  • Habe ich mich mit meiner Symptomatik arrangiert? Halte ich sie für genetisch bedingt, schicksals- oder naturgegeben? Lässt sich da nichts machen? Oder doch?

  • Wie stehe ich zu meinen blinden Flecken? Habe ich welche? Sind sie einfach da und ich lebe irgendwie mit ihnen zusammen? Oder decke ich sie Stück für Stück auf?

  • Welche sprachlichen Ausdrücke („Stell dich nicht so an!“ „Anderen geht es schlechter“ usw.) benutze ich, um mich selbst von der Realität meines Erlebens abzulenken und mich zu belügen?

  • Was tue ich, damit die Wahrheit nicht auftaucht? Trinke oder esse ich? Treibe ich besonders viel Sport? Lenke ich mich mit Serien oder Surfen ab? Oder arbeite ich die ganze Zeit?

  • Was habe ich für ein Selbstbild? Habe ich einen zu niedrigen Selbstwert? Traue ich mir wenig zu? Bleibe ich lieber ein Teil der Masse und nichts Besonderes? Oder überschätze ich mich? Bin ich arrogant und moralisch überlegen? Ein besserer Mensch, der alles durchschaut hat?

  • Falls ich krank bin: Welche Vorteile bringt mir meine Krankheit? (In der Psychologie bezeichnet man es als "Krankheitsgewinn". Er wird gern komplett übersehen und man stellt es so dar, als würde man unter einer Krankheit nur leiden und sie unbedingt loswerden wollen.)

  • Falls ich ein Muster habe, das ich eigentlich gern loswerden würde: Welche Vorteile hat dieses Muster für mich?
  • Hasse ich Lügner und Heuchler? Wie reagiere ich, wenn ich jemanden beim Lügen ertappe? Werde ich wütend? Die Reaktion ist auch immer projektiv: Was lässt sich also daraus über meine eigenen Lügen und Heucheleien schließen?

  • Habe ich Angst vor Neuem? Habe ich Angst vor Veränderungen?

  • Jagt mir die freiRaum-Radikalität etwas Angst und Schrecken ein? Befürchte ich, dass im freiRaum Dinge ans Licht kommen könnten, für die ich noch nicht bereit bin? Könnte ich mir vorstellen, diese Ängste zum Thema einer Sitzung zu machen und mich direkt mit ihnen zu beschäftigen? Oder braucht es einfach noch etwas Zeit? Oder ist mein Leidensdruck noch nicht hoch genug, so dass in meinem Leben noch mehr passieren muss, damit ich den Entschluss fasse, in den freiRaum zu kommen?

  • Bin ich bereit, die Opferrolle ein Stück abzustreifen und Verantwortung für meine Heilung zu übernehmen und meine Blüten nicht mehr am Sich-öffnen zu hindern? Bin ich bereit, Zeit, Geld und Energie in dieses Vorhaben zu investieren? Wenn die Antwort "Nein" oder "Noch nicht" lautet: Was müsste in meinem Leben passieren, damit sich meine Bereitschaft erhöht? Oder halte ich lieber noch eine Weile an meinen Symptomen, an meinem Leiden und an meinen Lügen fest? Oder suche ich irgendwo ein Wundermittel oder eine Wunderheilung, die meine Probleme und Symptome zum Verschwinden bringen würden, ohne dass ich meine Komfortzone verlassen und meine Lügengebilde zum Einsturz bringen muss?

 

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Bildnachweis:
Bilder von Kellepics / Pixabay
Comic von Charles M. Schulz