Man klebte ihm Filzgleiter unter die Füße, behandelte es ansonsten nicht sonderlich zimperlich. Man schob es auf dem Rücken hin und her, man ließ es eine Woche lang in einem dunklen Raum stehen, bis es endlich einen kleinen Platz in der besagten Verkaufshalle bekam. Dort bekam es ein Schild drangeklebt und sollte Menschen dafür begeistern, ein Geschwister von ihm mit nach Hause zu nehmen. Das war Schwerstarbeit: Menschen setzten sich ungefragt auf das Sofa. Kinder stiegen mit Schuhen darauf und tobten und sprangen. Das Sofa verlor seine Leichtigkeit und einen Teil seiner Schönheit und wurde heruntergesetzt: Ausstellungsstück, 30% Rabatt. Die Kunden wollten aber perfekte Möbelbegleiter für ihr Zuhause und meckerten am Sofa herum. Die Leiterin der Verkaufshalle beschloss, dem Sofa eine letzte Chance zu geben und schickte es als Ausstellungsstück an Amazon Warehousedeals.
Dort musste das Sofa genauer untersucht und inspiziert werden. Das war ihm sehr unangenehm. Die Diagnose: gebraucht, akzeptabel. Das Sofa schämte sich. Jeder kleinste Mangel wurde vermerkt. Und es wurde zu einem lächerlich günstigen Preis auf der Website hochgeladen mit der Beschreibung: „Zustand: Gebraucht - Akzeptabel - Artikel weist große kosmetische Schäden auf, wie Risse, Löcher oder Dellen, kann aber weiterhin benutzt werden. Große Schönheitsfehler an der Ober- oder Vorderseite oder an den Seiten des Artikels. Große Schönheitsfehler an der Unter- oder Rückseite des Artikels. Große Schönheitsfehler an der Ecke des Artikels. Der Artikel wird neu verpackt geliefert.“ 
Zur gleichen Zeit war eine Therapeutin auf der Suche nach einem passenden Sofa für ihre Praxis. Durch Zufall sah sie, dass ein Sofa in einem schlechten Zustand angeboten wurde. Sie überlegte nicht lange und tat etwas, was sie bislang noch nie getan hatte: Sie erwarb einen Artikel in einem Zustand, der alles andere als perfekt zu bezeichnen war. Sie verstand selbst nicht, was sie tat. Später kam die Erkenntnis: Die Sofarettung hat durchaus Sinn. Wo soll es denn sonst hin? Soll es einfach geschreddert werden, weil keiner es haben will? Und welchen sinnvolleren Platz hat dieses Sofa als in einer therapeutischen Praxis zu stehen? Vielleicht kehrt dann auch seine Leichtigkeit zurück? Und haben wir nicht alle so eine ähnliche oder eine vergleichbare Geschichte wie dieses Sofa? Gehören wir deswegen auf den Müll oder als gebraucht-akzeptabel diagnostiziert?
An einem sonnigen Tag kam das Sofa endlich in der Praxis an. Davor musste es noch vier Wochen in einer dunklen und kalten Lagerhalle ausharren. Noch einmal musste es einiges erdulden: Es wurde geschoben, getragen, gedreht, auf den Kopf gestellt. Aber endlich kam es dort an, wo es sehnlichst erwartet wurde. Und dann war die Therapeutin sehr überrascht: Die beschriebenen Mängel auf der Vorderseite waren nicht oder kaum zu sehen. Die größten Mängel befanden sich am Rücken – dort, wo sie keiner sieht! Lieber Leser, kommt dir das bekannt vor?
Ja, was geschah also mit dem Sofa nach seiner Lieferung? Ihm wurden die Füße angeschraubt und es wurde aufgestellt und wenn es nicht gestorben ist, so steht es heute noch in der Praxis freiRaum in der Anne-Conway-Straße 1 in Bremen.
Fragen zum Nachforschen und Ergründen
- Fühle ich mich manchmal auch wie dieses Sofa? Die Fassade ist in Ordnung, aber wenn man das dahinter sehen würde...
- Wie stehe ich zu meinen Schrammen, Kratzern, Wunden und Blessuren? Wie stehe ich zu meinen körperlichen und seelischen Verletzungen und Narben? Tue ich alles, um sie zu cachieren? Oder stehe ich zu ihnen?
- Habe ich so eine ähnliche Lebensgeschichte wie das Sofa? Wurde ich auch herumgeschubst, ignoriert, abgestellt und als voller Makel und Mängel bezeichnet? Passiert es mir immer noch oder bin ich mittlerweile an einem (inneren) Ort angekommen, wo ich sein kann, wie ich bin? Wo ich wirklich zu Hause und willkommen bin?
- Woran messe ich meinen Wert? An der makellosen Fassade? An irgendwelchen Errungenschaften? An den Objekten, die ich besitze? Oder an meinen Fähigkeiten? Oder fühle ich meinen bedingungslosen Selbstwert?
- Unabhängig von all den Schrammen, Kratzern, Wunden usw.: Wie zufrieden bin ich mit meinem Leben? Kann ich die tiefe innere Zufriedenheit spüren, die aus dem Leben als solchem kommt? Oder kenne ich dieses Gefühl gar nicht oder nur selten?